Roman, 348 Seiten
Berlin, 2015
Das Fest des Windrads ist ein Roman über die Zumutungen des Alltags, die Brüchigkeit von Karriereträumen und die Suche nach dem richtigen Leben am vermeintlich falschen Ort.
Textauszug:
Vom ersten Satz hängt alles ab. Greta lehnt den Kopf gegen den Sitz. Der Zug rumpelt auf den Schienen, erster Satz, erster Satz, erster Satz. Die Scheibe wirkt klebrig, innen und außen, am liebsten berührte sie hier nichts, nicht die Armlehne, nicht das Sitzpolster mit den rätselhaften Flecken, nicht den schmierigen Griff der Schiebetür.
Sie sieht Vittorio Fras vor sich, wie er die Arme ausbreitet, „mia cara Greta“ ruft, sie auf die Wange küsst. Spitze Lippen, falscher Kuss. Er wird seine Hand auf ihre Hüfte legen und sie an seine Brust ziehen, ihr eine Schweinerei ins Ohr raunen, für die sie ihn wegschubsen wird, wie im Spiel, und sie wird ihre süßeste Stimme bemühen und „Vittorio“ sagen. Mio caro Vito. Es ist letztlich alles eine Frage der Überwindung.
Sie betrachtet das Graffito des QR-Codes auf ihrem Zugticket und fragt sich, was der Schaffner damit machen wird. Scannen? Lochen? Zwicken? Sie kann sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal mit der Bahn gefahren ist, es muss Jahrzehnte her sein.
Greta hatte gehofft, einen offenen Wagen vorzufinden, nun aber sitzt sie in einem Abteil, eingekeilt zwischen einem alten und einem jungen Mann, die zeitgleich ihren Proviant auspackten, kaum hatte der Zug den Hauptbahnhof verlassen. Als sie aufblickt, sieht sie schuhsohlengroße Schwarzbrote in den Mündern der Männer verschwinden, sie scheinen nicht zu kauen, und Greta wird sofort übel. Sie erträgt es nicht, anderen beim Essen zuzusehen.
Der eine scheint ein Student zu sein, er trägt eine John-Lennon-Brille und balanciert einen Laptop auf den Knien. Der andere hat ein faltenloses, rundes Gesicht, nur die tiefen Tränensäcke verraten sein Alter. Sie sind angeschwollen und schimmern bläulich, wie zwei kleine Balkone, die nachträglich aufgeklebt wurden, um das Gesicht mit Würde auszustatten.
In San Marino würde Vittorio Fras sie zum Essen einladen, denkt Greta, das bliebe ihr nicht erspart. Seine Einladung am Telefon kam so überraschend, dass sie annahm. Wenn sie richtig verstanden hatte, war bereits im Medusa reserviert, Piazza della Libertà.
Greta würde einen kauenden Vittorio in Kauf nehmen und sich ganz auf die Details konzentrieren: auf seine silbernen Manschettenknöpfe mit den Initialen V und F, auf die eigentümlich langen Härchen an seinem Handrücken, auf seine scharf konturierten Geheimratsecken. Und sie würde auf die Mitteilung warten, die süßer schmeckte als jede Crème brulée: Dass er sich freue, sie zur Leiterin der neuen Superabteilung für flexible und starre Endoskope zu ernennen. Sie, Greta Kaminsky, ausgestattet mit einem geschliffenen Mundwerk und der Bereitschaft, sich für das Unternehmen in jede Bresche zu werfen.