Blumenbar bei Aufbau
Berlin, März 2017
262 Seiten
Von einem, der glaubt, das Beste liege noch vor ihm.
Textauszug:
Lange dachte Kuhn, er könnte sie beide behalten, Vera und Myriam. Es war ihm doch auch möglich, einen guten Rotwein und einen exzellenten Weißwein zugleich im Schrank zu haben. Das eine schloss das andere nicht aus. Im Gegenteil, sie ergänzten einander. Wenn er erhitzt war von Myriams mystischer Verklärung des Alltags – sie war etwa davon überzeugt, dass Pflanzen eine Seele hätten und behauptete, sie könnten auf ihre Art singen – dann kühlte ihn Veras Pragmatismus wieder auf Raumtemperatur herunter. Wenn Vera, Geschäftsführerin von SECURELLA, einem Unternehmen, das sich auf die Herstellung von Sicherheitstüren spezialisiert hatte, ihm die neue Marketingstrategie erläuterte, nährte ihn die Aussicht auf ein Gespräch mit Myriam, das frei war von technischen Daten. Mit Vera rechnete er, mit Myriam träumte er, und er benötigte das eine, um das andere zu genießen.
Vor dem Unterstand der Straßenbahnhaltestelle wartete ein Kind, das an der Hand seiner Mutter befestigt war. Es sagte: „Der Massa mit der Kassa“ und immer wieder „der Massa mit der Kassa, der Massa mit der Kassa“, dabei stach es mit den Fingern der freien Hand Löcher in die Luft. Die Mutter schaute zur Seite, so wie Hundebesitzer wegsehen, wenn ihr Hund einen Haufen in den Kurpark setzt.
„Afrika, Afrika“, sagte das Kind und sah Kuhn direkt in die Augen. Er lächelte und registrierte mit Erstaunen seine milde Stimmung. Das Kind hatte einen enormen Kopf und einen kleinen, viel zu schmalen Mund, einen Greisenmund.
Die Mutter stieg mit dem Buben in die Linie 36. Als das Kind bereits auf den Stufen der Straßenbahn stand, zeigte es auf Adam und sagte etwas zu seiner Mutter, die ebenfalls hersah. Er hatte das Gefühl, als litte Adam unter den fremden Blicken. Er drehte das Bild um.