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NACHRICHTEN AUS DER LEIDEKABANE

Klopfen an der Wand,
der Herzschlag des Reuenden –
tröstend nur der Mond.

Leopold Suchanek (aus: „Häfn-Haikus“)

 

Die künstliche Hand kaufte ich bei Wilpert Beisteiner in Beisteiners Prothesenhandlung. Es war seine letzte. Er holte die auf ihrem Stumpf stehende Hand aus dem Schaufenster. Ich betrachtete sie unter dem LED-Spot, denn Tageslicht gab es in Beisteiners Prothesenhandlung, die sich im Souterrain der so genannten City Arkaden befand, keines.
Es war eine rechte Hand, und sie war staubig, schien aber sonst unversehrt. Genau genommen handelte es sich um einen HANDARM, so stand es auf dem Etikett, also um eine Hand plus Unterarm, der vor dem Ellenbogen abrupt an seiner breitesten Stelle endete. Die Firma, die ihn herstellte, hieß „A Pound of Flesh“.
Üblicherweise, sagte Herr Beisteiner, werde diese Hand aufgrund des authentischen Hautgefühls von Tätowier-Lehrlingen zu Übungszwecken benutzt. Ich sah ihm dabei zu, wie er jeden einzelnen Finger mit einem antistatischen Tuch umschlang und sorgfältig abrieb.

Von den City Arkaden zum Gefängnis waren es nicht mehr als zwanzig Schritte. Ein im Weitspucken geübter Häftling wäre ohne Zweifel in der Lage, einen Kirschkern von seinem Zellenfenster aus auf das Parkdeck der City Arkaden zu spucken, sofern sein Fenster nicht vergittert wäre und die Betreiber des Einkaufszentrums nicht schon vor Jahren ein gazefeines Netz über das Parkdeck gespannt hätten, um Kirschkerne und andere Geschoße aufzuhalten, die vom Gefängnis in Richtung des Decks hätten geworfen werden können. Ich stellte mir vor, dass Häftlinge mit Hilfe einer Tätowiernadel Botschaften in Kirsch- oder Marillenkerne eingravierten und diese Kerne dann in der Stadt, zu der man City sagte, spuckend verteilten, auf dass Passanten, die nichtsahnend den City Arkaden zustrebten oder von ihnen fortgingen, die Kerne aufhöben und die Botschaften läsen.

In keiner anderen Stadt der Welt liegen Gefängnis und Einkaufszentrum so nah beieinander wie in Klagenfurt. Nirgendwo anders vermengen sich Kaufabsicht und Ausbruchswille in dieser Intensität. Fast wächst das eine Gebäude in das andere hinein, umschlingt, ja verschlingt es, und wenn abends um halb acht in den City Arkaden die Rollläden herunterrasseln, werden auch die Zellen im Gefängnis für die Nacht abgeschlossen, so als hätte eine übergeordnete Koordinationsstelle den Schließzeitpunkt beider Gebäude ein für alle Mal festgelegt.
Befände man an beiden Orten zugleich oder würde in den City Arkaden in einer Direktschaltung die Geräusche aus dem Gefängnisgang übertragen werden, so ertönte in Stereo eine Symphonie des Schließens, ein metallisches Klacken und Wogen, ein Rasseln und Toben, und nach drei Minuten lägen beide Gebäude da wie tot.

Und noch während Wilpert Beisteiner die Hand mit einem Glanzspray besprühte, stellte ich mir vor, wie der Gefängnisdirektor nach seinem Gefängnisarbeitsalltag aber noch vor dem Rasseln der Rollläden rasch in die City Arkaden lief, um fürs Abendessen einzukaufen, Wurst, Debreziner, Honigmelone, und im Vorbeischlendern an Wilpert Beisteiner Prothesenhandlung, die genau genommen keine war, da sie ausschließlich BODY PARTS verkaufte, also jene Übungsbeine, Knie, Füße und Köpfe der Firma „A Pound of Flesh“, die im Schaufenster konzeptlos übereinander lagen und neue, bizarre Körper bildeten, ohne Rumpf, dafür mit vier Beinen und zwei Knien und einer Übungs-Armbeuge, die von Krankenschwesterschülerinnen benützt wurde, um das Prozedere der Blutabnahme zu simulieren. Möglicherweise überlegte sich der Direktor, ob er für das gefängniseigene Tattoo-Studio nicht neue Körperteile kaufen sollte, die existierenden wurden bereits so oft bearbeitet, dass sie nachtschwarz waren vor Tinte. In regelmäßigen Abständen fanden Passanten, die in die City Arkaden gingen oder diese verließen, einen dieser zu Schanden tätowierten Handarme auf dem Asphalt, und keiner wusste, wie sie dorthin gelangt waren.

Als ich die künstliche Hand kaufte, wohnte ich bereits seit drei Jahren in den City Arkaden, nicht im Souterrain, sondern im ersten Stock. Wohnen war ein gewichtiges Wort, das den Zustand nicht adäquat abzubilden vermochte, doch auch City Arkaden war eine freundliche Übertreibung, denn Arkade gab es hier nicht eine, und die so genannte City bestand aus dem Platz, auf dem sich das Einkaufszentrum befand und der fingerschmalen Wienergasse, auf der der Fußgängerstrom zwischen Altem Platz und Einkaufszentrum mehr stockte, denn floss. Je weiter man sich von den City Arkaden entfernte, umso schütterer das Leben, und in der Bahnhofstraße, dem ehemaligen Prachtboulevard mit herrschaftlichen Geschäften, hausten Eulen hinter zersprungenem Glas, Bäume wuchsen aus Fenstern, auch war bereits ein Reh gesichtet worden.

Vor drei Jahren verlor ich meine Wohnung wie man ein Taschentuch verliert. Beiläufig. Der Vermieter meldete Eigenbedarf an, und vor diesem höher gestellten Bedarf kapitulierte der meine. Ich verschenkte meine Möbel und brachte die Bücher in die Stadtbibliothek.

Hinter den neu gestalteten Toiletten im ersten Stock der City Arkaden gab es einen Raum für Putzutensilien, und dieser Raum führte in eine weitere Kammer, kaum fünf Quadratmeter groß, in der ich schlief, zwischen ramponierten Handwaschbecken und überzähligen Fliesen. Fenster gab es keines, also öffnete ich alle Türen, die Türe zum Putzraum, zu den Toiletten und so fort, denn seit ich ein Kind war, hatte ich Angst, im Schlaf zu ersticken, und diese Angst führte dazu, dass ich nur im Sitzen und bei offenem Fenster einschlafen konnte. Eine der Putzfrauen, sie hieß Danijela, stellte mir regelmäßig Essen in die Kammer, Hühnchen mit Tomatensauce, gefüllte Paprika, Kohlrouladen, und ich bedankte mich mit mehr oder weniger verunglückten Reimen, die ich auf einen Post-it-Zettel schrieb und auf ihren Putzeimer klebte.

Tagsüber saß ich in Umkleidekabinen. Ich dachte nach, etwa über das Wort Umkleidekabine, das ich stets neu einkleidete.

Umleidekabine.

Umkleidekabane.

Leidekabane.

Rief eine Verkäuferin „Passt es?“ durch den Vorhang in die Kabine, rief ich „Zu eng!“ zurück, und dieses zu eng wurde meine Leidekabanen-Mantra, und die Verkäuferinnen brachten mir Blusen in Zeltgröße und Adipositas-Hosen, und immer noch rief ich „zu eng!“

Ich traf auf Elena, die es sich im Hinterzimmer des Devotionalien-Shops im zweiten Stock häuslich eingerichtet hatte. In den Umkleidearealen identifizierten wir einander durch Klopfzeichen. Manchmal saßen wir in benachbarten Kabinen und unterhielten uns flüsternd, ohne uns zu sehen, wie in einem Beichtstuhl, wobei keine von uns die Seelsorgerin war und keine konnte der anderen die Absolution erteilen. Wir hatten beide einiges auf dem Kerbholz, und täglich wurde es mehr. Elena hatte die Hoffnung nicht aufgegeben, jemals wieder hier rauszukommen, sie schmuggelte sich bereits in Teilen hinaus aus dem Gebäude und in fremde Wohnungen, indem sie Haare, Wimpern oder Nagelsplitter in Hand-, Mantel- oder Einkaufstaschen gleiten ließ. Ein magisches Ritual, das sie unablässig ausweitete, einmal ritzte sie sich mit einer Glasscherbe, um die Bluse einer Fremden mit ihrem Blut zu imprägnieren, ein andermal ließ sie ein Stückchen Nagelhaut auf eine Lasagne fallen, bevor sie an den Tisch gebracht wurde, Fleisch zu Fleisch.

Elena hatte sich eine Restreligiosität bewahrt, die ihre Seele leicht radioaktiv glimmen ließ, ähnlich, wie es Restalkohol vermochte. Das Residuum einer Kindheit im Wallfahrtsort, in dem sich das Gemurmel der Wallfahrer mit den Sirenen der Einsatzfahrzeuge, die während der Sommermonate die entkräfteten und/oder herzkranken Wallfahrer auflasen, die in faulenden Trauben vor der Wallfahrtskirche deponiert worden waren, um Maria die Füße zu küssen, zu einem Soundteppich verwob, der wie nichts anders Elenas Restleben beschallen sollte.

Die Umkleidekabinen waren unsere Privat-Arkaden, unter denen wir wandelten. Aber meistens saßen wir. Auf wackeligen Hockern, den Blick auf die Staubbällchen gerichtet, die bei der kleinsten Vorhangbewegung hochstiegen, um anschließend wieder zu Boden zu segeln.
Elena erzählte durch den Vorhang der Leidekabane hindurch. Sie sagte: Als ich ein Kind war, griff mit Onkel Heinz zwischen die Beine, und meine Großmutter lehnte an der Tür und beobachtete uns, ich spüre diesen Blick noch heute, hochmütig und anklagend. Eine kleine Frau, dürr und mit ekstatischem Willen, die ihre Kraft nicht aus dem Glauben zog, sondern aus dem Nicht-Glauben. Sie sah es und behauptete, dass ich log. Sie zog mich an den Haaren und sagte: „Dem Onkel Heinz verdankst du dein Abendbrot … undankbarer Rotzlöffel … nein, dass es sowas gibt und so weiter und so fort.“ Ein paar Jahre später haute ich ab, leid war mir nur um meinen Hund Samson, ich ließ ihn zurück und bedauerte, dass ich keine meiner Hände dort lassen konnte, die ihn weiter streicheln würde. Wenn ich ging, würde alles von mir gegangen sein.

Sie war es, Elena, die mich auf die Idee mit der künstlichen Hand brachte. Eine Vertreterhand, die in der Lage wäre, jemanden zu trösten, der nicht getröstet wurde.
Und dann rief eine Verkäuferin: „Passt es?“, es war der unpassendste Moment von allen, und diesmal rief ich „zu weit!“, denn all dies schien mir zu weit gegangen zu sein, und die Verkäuferin brachte Rollkragenpullover, die mir den Hals zuschnürten, Röcke, deren Bund mir auf den Magen drückten und Hosen, die meine Oberschenkel gefangen nahmen.

Einmal im Jahr gab es im Gefängnis einen so genannten Tag der offenen Tür. Man konnte die Krippenwerkstatt besuchen, in der das ganze Jahr über Krippenfiguren und Krippenlandschaften, Engel und Hirten entstanden. Es gab eine Darbietung des Gefangenenchors und eine Lesung des Gefängnispoeten Leopold Suchanek, der fünfundzwanzig Jahre lang in Stein einsaß und seit seiner Entlassung Haiku-Workshops für Häftlinge durchführte, weil Haikus aufgrund ihrer selbstbegrenzenden Silbenregeln den begrenzenden Aufenthalt in der Haftanstalt erträglicher machten, wie eine Studie belegte.

Tagelang bereitete ich mich darauf vor, die City Arkaden zu verlassen. Dem Security-Mitarbeiter, der den Eingang bewachte, näherte ich mich zunächst auf Wurfweite, dann auf Spuckdistanz, schließlich auf Flüsternähe. Ich kannte ihn vom Wegsehen, manchmal überraschte er mich bei den Mitarbeiter-Duschen im Souterrain. Er wusste, dass ich dort nichts zu suchen hatte (Danijela hatte mir ihren Schlüssel überlassen), aber er war zu freundlich oder zu bequem, um mich zu melden, vermutlich beides.

Als der Tag gekommen war, trat ich hinaus auf die Straße, als sei es das Selbstverständlichste der Welt. Ich war so lange nicht mehr draußen gewesen, dass mir die Luft wegblieb. Ein monochromer Himmel, irgendwo tief unten eine trübe Sonne, wie in Mehl gewälzt. Meine Augen tränten, als ich die Straße überquerte und am Gericht entlangging, mit der Rechte stütze ich mich an der Mauer ab, die die pudrige Wärme der letzten Stunden ausatmete.

Vor dem Gefängnistor standen Justizbeamte, die Daumen in der Gürtelschlaufe, die Beine breit, als seien sie soeben vom Ross gestiegen. Drinnen verlangten sie mein Handy, aber ich hatte keins, sie wollten, dass ich meine Taschen leerte, aber da war nichts drin. Die künstliche Hand hatte ich mir mit Hilfe einer Mullbinde auf den Bauch gebunden. Ich sah fett aus, aber nicht künstlich fett, sondern natürlich dick. Und dies hier war nicht Fuchu, wie ich bald bemerken sollte, das japanische Gefängnis, in dem selbst die Schlafhaltung vorgeschrieben und Sprechen bei Strafe verboten war, sondern eine gepflegte Provinz-Justizanstalt mit Wörthersee-Wand-Tattoos an den Zellenwänden und Magnolien-Duftzerstäuber auf den Fluren.

Wir wurden auf mehrere Kleingruppen aufgeteilt, ich kam in die Gruppe Konrad, die von Konrad, dem Langzeithäftling geleitet wurde, irgendwas mit Hedgefonds. In einem kahlen, nach ungelüfteten Socken riechenden Raum bildeten wir einen Selbsthilfegruppenkreis, nannten unsere Vornamen, dann nahmen wir uns an der Hand, und Konrad ging im Kreis herum, sah jedem in die Augen und sagte: Du bist frei. Als er vor mir stand, konnte ich seinen Chlorophyll-Atem riechen, und ich fahndete nach etwas Außergewöhnlichem in seinen Blick, erzählte ich Elena später, als wir wieder in unseren Leidekabanen saßen, ich fahndete nach Schmerz oder Reue, aber da war nichts außer kühlschrankkalter Professionalität. Vermutlich hatte er das schon hunderte Mal gemacht.
Ein Kollege von Konrad brachte uns Apfelsaft und kleine, mit schmerzhaft süßer Kirschmarmelade gefüllte Krapfen in einer Schale, einer Haftschale gewissermaßen. Dieser zweite Häftling war gedrungener und breiter als Konrad, er trug ein Namensschild auf seiner Brust als sei er Sprecher auf einer Konferenz, und überhaupt wirkte nichts so richtig gefängnishaft, eher freizeitlagerhaft.
Ob mir bewusst war, warf Elena ein, dass das Gefängnis am Tag der offenen Tür seine freundliche Seite herauskehrte, ähnlich, wie es Schulen taten, in denen am Tag der offenen Tür mit großer Akribie Kuhaugen seziert wurden, um die Eltern zu beeindrucken, wohingegen später, nachdem das Kind angemeldet worden war, nie wieder ein Kuhauge seziert werden würde, weil die Kuhaugen nichts anderes waren als ein Lockangebot.
Ich wandte ein, dass doch niemand ernsthaft erwägen würde, Werbung für ein Gefängnis zu machen, doch Elena sagte, dass Image alles war, auch in Sachen Justizanstalt. Überhaupt war sie erstaunlich gut informiert, etwa wusste sie, dass es eine Webseite gab, auf der die Gefängnisse bewertet wurden wie Hotels, und sie wusste, dass Flucht aus dem Gefängnis keine Straftat war, solange sie ohne Gewalt gegen Bedienstete oder fluchtverhindernde Gegenstände, wie etwa Gitter, von statten ging, da sie im natürlichen Freiheitsdrang des Menschen wurzelte.

Dies erfuhr ich nun – zu spät, aber ich hätte mir sowieso nicht zugemutet, Konrad oder seinen Kollegen aus dem Gebäude zu lotsen – und selbst wenn: Wohin mit den beiden? Elena brannte darauf zu erfahren, wie ich Beisteiners Handarm losgeworden war, also erzählte ich, dass ich Konrad unter Vorspiegelung falscher Tatsachen auf den Flur gelockt hatte. Ich flüsterte ihm zu, dass ich eine Frage hätte, die keiner der Dummköpfe hier hören durfte, ich stellte Komplizenschaft her und schaffe es damit nicht nur, ihm ein Lächeln abzuringen, sondern auch, mit mir auf den Flur zu treten. Für eine Minute, wie er betonte, und er behielt die Hand auf der Klinke, um die Entschiedenheit seiner Aussage zu untermauern.
Auf dem Gang war es so still, dass ich meinem Herz bei der Arbeit zuhören konnte. Eine Stille, die mich verstummen ließ, weil sie mir mittlerweile fremd war. In den City Arkaden war es immerzu laut. Das schrille Piepsen, wenn Waren über die Scannerkasse gezogen wurden, der durchdringenden Ton, den das berührungslose Bezahlen mit einer Karte auslöste, das Jaulen der Alarmanlagen, wenn sich jemand mit gesicherte Ware dem Ausgang näherte, das hinterlistige Summen der Rolltreppen, das Gebrüll der Kinder, die sich ihre Köpfe am Klettergerüst stießen, während ihre Väter an Käseleberkäsesemmeln kauten.

Ich vermutete bereits, dass ich hier falsch war. Alles war falsch, vergebens. Ich sagte kein Wort. Konrad benötigte meine tröstende Hand nicht, und dennoch hob ich mein T-Shirt hoch, um ihm die Hand an meinem Bauch zu zeigen, denn ich war ohnehin bereits zu weit gegangen. Die Finger der Hand waren zwischen den Brüsten verborgen, er konnte also auf den ersten Blick nicht alles erkennen, aber was er sah, genügte, um ihn zurückspringen zu lassen. Vermutlich befürchtete er, ich wolle einen Sprengkörper zünden, einen Körper sprengen, überhaupt die Haftanstalt in Schutte und Asche legen. Zweifellos kannte er sich mit Hedgefonds aus, nicht aber mit Besucherinnen, die ungebetene Geschenke in in die Justizanstalt schmuggelten, seine Hände zuckten, er wusste wohl nicht, ob er mich festhalten oder Hilfe holen sollte. Im nächsten Augenblick griff er in die Hosentasche, ich sah nicht, was er herauszog, war es ein Pager, ein Handy? Diesen Augenblick der Unentschiedenheit nutzte ich, um davonzulaufen. Mit tobendem Herzen schoss ich durch die Gänge, an der Gefängniskapelle vorbei, den Werkstätten, den Gemeinschaftsräume, die Treppe hinunter, vorbei an mehreren Besuchergruppen, die zurückwichen.

Das alles erzählte ich Elena nicht. Ich sagte, dass Konrad sich über die Hand gefreut hätte, ja, dass er sie umgehend in einem Schrank verborgen hätte, um, wie er mir vertraulich ins Ohr flüsterte, abends von dem Zubettgehen seine Wange an den gepolsterten Handrücken zu legen, die Finger durch sein Haar tanzen zu lassen und sich vorzustellen es wäre die Hand einer sehr lebendigen Frau.
Ob er verheiratet war, fragte Elena. Nein, sagte ich, er war ganz allein, weder drinnen, noch draußen eine Menschenseele, die ihn aufrichtete.  Eine zweite Lüge, angestiftet von der ersten.

In Wahrheit lief ich zurück, beschämt.  Es war kurz vor halb acht, bald würden die Läden schließen. Im Vivienne Westwood-Outlet entfernte ich eine Stecknadel aus dem Kragen eines ozeanblauen Hemdes, vor der Elektrogroßhandlung fand ich eine nur halbleere Druckerpatrone im Papierkorb. Dann suchte ich mir einen Platz im Sonnenstudio, warf einen Euro in den Schlitz und setzte mich in gleißendes Licht. Ich wickelte die Hand von meinem Bauch, bohrte mit der Nadel ein Loch in die Druckerpatrone, und dann beschrieb ich die Hand mit mikroskopisch feinen Lettern, überzog sie mit Worten, darauf achtend, dass kein einziges verloren ging.

Ich begann den Text mit einem Haiku, das ich mir ausdachte und einem Ex-Häftling unterschob, der niemals existiert hatte. Die Wahrheit war im Dauerausverkauf, leicht ramponiert, doch immerhin war sie meine, und nur das zählte.

Und als ich am Ende angelangt war und ganz unten am Stumpf die Worte Und schließlich nichts mehr war als eine Erinnerung in die künstliche Haut ritzte, dem Schwung des G widmete ich all meine Aufmerksamkeit, hatte diese Hand, wenn schon niemand anderen, so doch mich getröstet, und ich konnte sie getrost in einer besonders sternenfernen Nacht auf dem Gehsteig zwischen Gefängnis und City Arkaden aussetzen.
Was ich nicht ahnte, als ich mich danach durch den Notausgang zurück in die City Arkaden stahl, um mich wenig später in der Kammer hinter den Toiletten zusammenzurollen, zwischen überzähligen Handwaschbecken und ramponierten Fliesen, war, dass die Hand wenige Stunden später bereits aufgelesen werden würde. Von einem Stadtbediensteten der Abteilung Entsorgung, der die Hand zunächst in den Container werfen wollte, sie nach kurzer Inspektion dann doch ins Führerhaus des Müllwagens legte, bevor er in seine Hosentasche griff, um ein Bonbon der Firma Bayrisch Blockmalz aus dem Papier zu schälen und in den Mund zu stecken, wo es, eingeklemmt zwischen Backe und Backenzahn, in den nächsten Minuten weniger und weniger wurde und schließlich nichts mehr war als eine Erinnerung.